Dies ist der Cache von Google von http://www.thieme.de/viamedici/zeitschrift/heft0502/3_topartikel.html. Es handelt sich dabei um ein Abbild der Seite, wie diese am 23. Juni 2009 01:30:01 GMT angezeigt wurde. Die aktuelle Seite sieht mittlerweile eventuell anders aus. Weitere Informationen

Nur-Text-Version
Diese Suchbegriffe sind markiert: menschenversuche krankenhäusern ss  
Ärzte im Dritten Reich - Via medici online


  Home
   

Ärzte im Dritten Reich

Weiße Kittel mit braunen Kragen

Evelyn Hauenstein

Ausgerechnet Medizinstudenten wissen wenig über das dunkelste Kapitel der deutschen Medizingeschichte: die Verbrechen von Ärzten im Nationalsozialismus. Das liegt aber nicht am mangelnden Interesse der Medizinstudenten. Sie finden die Auseinandersetzung mit diesem Thema für ihren späteren Arztberuf wichtig. Von vielen einflussreichen Ärzten und Lehrenden wird dieses Thema bis heute totgeschwiegen. Via medici bringt Licht in dieses Dunkel.

Bild

Übersicht

Den Namen Josef Mengele kennen viele, von den Menschenversuchen der KZ-Ärzte haben die meisten in der Schule gehört. Nur die Wenigsten können aber mit den Namen Mitscherlich und Mielke etwas anfangen - waren die etwa auch gewissenlose Mediziner? Und was beim Nürnberger Prozess passierte, weiß ebenfalls kaum einer. Ausgerechnet Medizinstudenten - diejenigen, die künftig als Ärzte in Deutschland arbeiten werden - wissen nur wenig über das dunkelste Kapitel der deutschen Medizingeschichte: den Nationalsozialismus. Das hat eine Studie namens ASAMANS (Asking Students about Medicine and National Socialism) an der Humboldt-Universität Berlin ergeben. Über dreihundert Medizinstudenten befragten der Arzt Peter Langkafel sowie die beiden Studenten Timo Drewes und Sebastian Müller nach ihrem Wissen, aber auch nach ihrem Interesse am Thema Medizin im Nationalsozialismus. Neunzig Prozent der Befragten wussten zum Beispiel nicht, dass es sich bei Alexander Mitscherlich und Fred Mielke eben nicht um Nazi-Ärzte, sondern um die Beobachter des Nürnberger Prozesses handelt, die später die Dokumentation "Medizin ohne Menschlichkeit" verfassten. "Bemerkenswert ist, dass die großen Wissenslücken nicht auf mangelndes Interesse der Studenten zurückzuführen sind", sagt Langkafel. Fast alle gaben an, dass sie mehr über das Thema wissen wollen und die Auseinandersetzung damit für ihren späteren Arztberuf wichtig finden.

Im Nürnberger Ärzteprozess 1946 und 1947 standen die Versuche an Menschen zur Verhandlung. Nur zwanzig NS-Ärzte waren angeklagt - alle plädierten auf nicht schuldig. Hinten die Angeklagten, vorne die Verteidiger. (Foto: IPPNW)
Im Nürnberger Ärzteprozess 1946 und 1947 standen die Versuche an Menschen zur Verhandlung. Nur zwanzig NS-Ärzte waren angeklagt - alle plädierten auf nicht schuldig. Hinten die Angeklagten, vorne die Verteidiger. (Foto: IPPNW)


Der normale Mediziner unter der NS-HerrschaftNach oben hoch

Der Nachholbedarf ist groß: Laut der Berliner Umfrage weiß kaum ein Medizinstudent, dass sich die deutsche Ärzteschaft weit mehr als die Durchschnittsbevölkerung nationalsozialistisch organisiert hatte. Leicht entsteht der Eindruck, die medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus seien nur von einigen wenigen gewissenlosen Ärzten begangen worden, die sich von der NS-Ideologie verführen hatten lassen. Dabei wurde Hitlers Machtergreifung von vielen freudig begrüßt: 45% aller Ärzte traten nach 1933 in die NSDAP ein. Im gleichen Jahr gingen die beiden größten ärztlichen Standesorganisationen, der Hartmannbund und der Deutsche Ärztevereinsbund, mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB) ein Bündnis ein. "Viele deutsche Ärzte haben sich im Ersten Weltkrieg bereits an energisches ,Durchgreifen' und Missachtung der Patientenrechte gewöhnt, schon lange vor 1933 den späteren nationalsozialistischen Herrschern bereitwillig, ja begeistert angedient", schreibt der Arzt und Medizinhistoriker Till Bastian in seinem Buch "Furchtbare Ärzte".

Zwar gab es einige, die sich im Widerstand gegen Hitler engagierten und dafür mit dem Leben bezahlten: Hans Scholl und andere Mitglieder der Münchner Widerstandsgruppe "Weiße Rose" studierten Medizin, auch im Hamburger Widerstand beteiligten sich Ärzte. Dennoch schlossen sich nur ein paar Dutzend organisierten Gruppen an. Öffentlichen Widerstand leisteten Mediziner jedoch nur in Ausnahmefällen. Viele unterstützten das Nazi-Regime bis zuletzt und gaben nach dem Krieg vor, immer schon dagegen gewesen zu sein - wie zum Beispiel der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch. Der Chefarzt der Berliner Charité protestierte im privaten Kreis gegen Euthanasie und Antisemitismus, zählte jedoch Hitler und Goebbels zu seinen Patienten und stellte sich dem System als Generalarzt der Wehrmacht zur Verfügung.

Ein Grundpfeiler der nationalsozialistischen Ideologie - die Rassenhygiene - wurde von deutschen Ärzten aus den Ideen des Sozialdarwinismus (survival of the fittest) und der Eugenik mit- und weiterentwickelt. Das Ziel der Rassenhygiene war die "Erhaltung und Fortpflanzung der biologischen Rasse unter den günstigsten Bedingungen", die "Verbesserung" des Volksbestands durch die Mittel der "Auslese" und "Ausmerze". Rassenhygiene wurde Pflichtfach an den Universitäten, Fächer wie Eugenik und Wehrmedizin ersetzten traditionelle Gebiete wie Infektionslehre und Physiologie. Dazu wurde das in der Nazi-Zeit äußerst beliebte Medizinstudium - Medizinstudenten mussten nicht als Soldaten an der Front kämpfen - wegen des hohen Ärztebedarfs in den Kriegsgebieten immer stärker auf schließlich vier Jahre verkürzt. Dieses System brachte schlecht ausgebildeten Nachwuchs hervor: Plötzlich sollten die Jungärzte verletzte Soldaten operieren, obwohl ihnen Grundkenntnisse im Fach Chirurgie fehlten. Dafür kannten sie sich in "Erbbiologie" bestens aus.

Auch viele Ärzte, die schon vor der Machtübernahme praktiziert hatten, übernahmen diese Ideologien kritiklos. 1934 trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Darin wurde die Zwangssterilisierung von Menschen mit Schwachsinn, Schizophrenie, Fallsucht, erblicher Blindheit und Taubheit, körperlichen Missbildungen oder schwerem Alkoholismus beschlossen. Etwa 350.000 Menschen wurden unfruchtbar gemacht - von ganz normalen Medizinern an ganz normalen Krankenhäusern wie der I. Universitätsfrauenklinik München: 1.345 Frauen wurden dort zwangssterilisiert. Auch am Massenmord an behinderten und geisteskranken Männern und Frauen beteiligten sich "ganz normale Ärzte". Hitler bezweckte damit "das Ausmerzen nutzloser Esser", die in Irrenhäusern verwahrt für das Reich von "keinem Nutzen" mehr waren. Organisiert wurde die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" unter dem Namen "Aktion T4" von der Berliner Zentrale Tiergartenstraße 4: Deutsche Ordinarien für Psychiatrie und Nervenheilkunde erhielten Meldeformulare für ihre Patienten. Danach wurde beschlossen, wer in den insgesamt sechs Tötungsanstalten umkommen sollte.

Im Januar 1940 fand die erste Massentötung - offiziell "Desinfektion" genannt - in Brandenburg statt. Die Behinderten wurden mit Kohlenmonoxidgas in einer als Duschraum getarnten Gaskammer umgebracht. Die Ärzte in den Behindertenheimen, Pflegeanstalten und Nervenkliniken machten mit, obwohl sie das Schicksal ihrer Patienten zumindest ahnen konnten und die Teilnahme freiwillig war: So boykottierte der Göttinger Nervenarzt Gottfried Ewald die T4-Aktion und blieb trotzdem unbehelligt. Im August 1941 wurde T4 abrupt beendet. Einerseits waren protestierende Stimmen aus der Bevölkerung rund um die Anstalten laut geworden, andererseits erschien Hitler wohl die "Endlösung der Judenfrage" und der Feldzug gegen die Sowjetunion wichtiger. Dennoch wurden die Tötungsaktionen in einer zweiten, unsystematischen Phase fortgesetzt, der "wilden Euthanasie": Nun brachten Ärzte in fast allen deutschen Anstalten Patienten durch überdosierte Betäubungsmittel um oder ließen sie langsam verhungern.


Die jüdischen ÄrzteNach oben hoch

Jeder Medizinstudent kennt die Henle-Schleife, den Auerbach-Plexus, den Edinger-Kern und die Herxheimer-Reaktion, aber kaum einer weiß, dass diese Begriffe nach jüdischen Ärzten benannt worden sind. Sie hatten Ende des 19. Jahrhunderts die deutsche Medizin mit ihren Forschungsergebnissen berühmt gemacht. Das Nazi-Regime nahm darauf keine Rücksicht: Juden sollten aus der Medizin ebenso vertrieben werden wie aus jedem anderen Bereich. Unter den 520.000 Juden, die bei der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 im deutschen Reichsgebiet lebten, befanden sich rund 8.000 Ärzte. Viele deutsche Ärzte zeigten im Umgang mit ihren jüdischen Berufskollegen Hass und Neid: "Kein Beruf ist so verjudet wie der ärztliche", stellte der NSDÄB 1933 fest: "Die jüdischen ,Kollegen' verfälschten den ärztlichen Ehrbegriff und untergruben arteigene Ethik und Moral. Ihnen verdanken wir, dass händlerischer Geist und unwürdige geschäftliche Einstellung sich immer mehr in unseren Reihen breit machten..." Auf Propaganda folgten Taten: Im April 1933 wurden alle nicht-arischen Ärzte von der Privatliquidation ausgeschlossen, fünf Jahre später auch von den staatlichen Ersatzkassen. Verbeamtete jüdische Ärzte wurden mit wenigen Ausnahmen in den sofortigen Ruhestand versetzt. Dazu kam der von der SA reichsweit organisierte "Judenboykott": 1938 - im Jahr der Reichskristallnacht - gab es noch etwas mehr als 3.000 jüdische Ärzte.

Nur wenige deutsche Mediziner setzten sich für ihre jüdischen Kollegen ein - obwohl das durchaus möglich gewesen wäre. Karl Bonhoeffer, Direktor der Nervenklinik an der Berliner Charité, verlängerte die Verträge seiner jüdischen Mitarbeiter, soweit die Gesetze ihm Spielraum ließen. Als er ihre Entlassung nicht mehr verhindern konnte, verschaffte er ihnen Arbeitsstellen im Ausland. Für mindestens zwei Ärzte und ihre Familien war sein Einsatz lebensrettend. Ein Viertel aller jüdischen Ärzte kam im Holocaust ums Leben, 10 Prozent begingen Selbstmord. Schon 1933 war mehr als die Hälfte der jüdischen Mediziner emigriert. Viele fanden in den USA eine neue Heimat, andere in Palästina. Nur fünf Prozent kehrten nach 1945 nach Deutschland zurück: Die alte Heimat hatte keine Anstalten gemacht, sie zurückzuholen.


Verbrechen von Ärzten in KonzentrationslagernNach oben hoch

Ihren extremsten Ausdruck fand die "Medizin ohne Menschlichkeit" in den Experimenten an Menschen, die in den meisten Konzentrationslagern (KZ) durchgeführt wurden. Die eigentliche Aufgabe der KZ-Lagerärzte war die Versorgung der SS-Mannschaften, nicht die der Häftlinge. Wenn diese überhaupt behandelt wurden, dann von mitinhaftierten Ärzten. An den KZ-Insassen waren die Lagerärzte aber dennoch interessiert: Sie dienten ihnen als "Material" für Experimente. Häufig standen hinter den Menschenversuchen ganz konkrete wirtschaftliche oder militärische Interessen. Für die Nazis war Überlegenheit im Luftkrieg wichtig, deshalb mussten sie wissen, wie der menschliche Körper in großen Höhen oder nach einem Absturz in kaltes Wasser reagiert. Im KZ Dachau missbrauchte der Arzt Sigmund Rascher Häftlinge zu Versuchen in einer Unterdruckkammer: Er beobachtete von außen den Verlauf der Höhenkrankheit bis zum Tod des Häftlings und sezierte ihn dann. Mindestens 80 Männer starben vor seinen Augen, während er akribisch ihr Leiden dokumentierte.

Auch die Fleckfieber-Versuche im KZ Buchenwald dienten militärischen Interessen: Um rasch einen Impfstoff gegen Fleckfieber zu finden, infizierte der Lagerarzt Erwin Ding-Schuler rund 450 Häftlinge künstlich mit Fleckfieber, viele von ihnen starben. Auch Impfstoffe gegen Gelbfieber, Diphtherie, Typhus, Cholera und Malaria wurden von gewissenlosen KZ-Ärzten an Lagerinsassen ausprobiert. Ihr Tod wurde bewusst einkalkuliert. Im KZ Natzweiler suchte der Straßburger Anatom August Hirt nach einem Gegenmittel für die im Ersten Weltkrieg gefürchteten chemischen Kampfstoffe Lost (Senfgas) und Phosgen. Ein Häftling, der Aufseher im KZ-Krankenrevier war, sagte im Nürnberger Prozess dazu aus: "Die Gefangenen ... kamen nackt in das Labor herein ... Sie bekamen ... einen Tropfen dieser Flüssigkeit auf den Oberarm geschmiert ... Nach ungefähr zehn Stunden ... stellten sich Brandwunden ein, ... am ganzen Körper ... Das waren kolossale Schmerzen, sodass es kaum noch auszuhalten war, sich in der Nähe der Kranken aufzuhalten ... Ungefähr am fünften Tag hatten wir die ersten Toten."

Ihren traurigen Höhepunkt fanden die Menschenversuche in Josef Mengeles Zwillingsstudien im Vernichtungslager Auschwitz. Mengele war "Experte" auf dem Gebiet der Vererbungsforschung. Im Interesse seiner Rassenhygiene-Ideologie erforschte er, welche Merkmale erblich und welche äußerlich bedingt sind. Die Körper der Zwillingspaare wurden vermessen, geröntgt, fotografiert; Abdrücke von Händen, Füßen und Gebiss wurden erstellt. Aber so "harmlos" blieb es nicht: Mengele operierte ohne Narkose, um die Schmerzempfindlichkeit vergleichen zu können. Er gab Bluttransfusionen und infizierte künstlich mit Krankheitserregern, um die Blutserum-Reaktionen von Zwillingspaaren zu studieren. Dann erfolgte die Sektion. Um die inneren Organe der Zwillinge zu vergleichen, tötete Mengele die Kinder zur selben Zeit, indem er ihnen Chloroform ins Herz injizierte. Alles wurde sorgfältig dokumentiert.


Die AufarbeitungNach oben hoch

Was passierte mit den Ärzten, die all diese Verbrechen begangen hatten? 1946 und 1947 standen die Menschenversuche im Nürnberger Ärzteprozess zur Verhandlung. Nur zwanzig Ärzte waren angeklagt - alle plädierten auf "nicht schuldig". Karl Gebhardt, oberster SS-Arzt, sagte aus: "So hat mir... das Dritte Reich ... auf ärztlichem Gebiet eine große Chance gegeben. Ich habe sie genutzt." Gebhardt wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet, ebenso wie sechs andere Ärzte. Neun erhielten Haftstrafen, fünf davon lebenslänglich. Sieben wurden freigesprochen. Dem Urteilsspruch wurde der Nürnberger Codex vorangestellt: eine Erklärung, die als Selbstverpflichtung für Wissenschaftler zum Einhalten von ethischen Normen bei Experimenten an Menschen gilt.

Die Richter verurteilten sieben Angeklagte zum Tode. Die meisten Ärzte jedoch, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten, erhielten keine adäquate Bestrafung. (Foto: IPPNW)
Die Richter verurteilten sieben Angeklagte zum Tode. Die meisten Ärzte jedoch, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten, erhielten keine adäquate Bestrafung. (Foto: IPPNW)

Der Großteil der Ärzte, die in KZs, Kliniken und Heilanstalten Verbrechen gegen die Menschlichkeit beging, kam jedoch ohne adäquate Bestrafung davon. Manche - wie Josef Mengele, der bis zu seinem Tod 1979 unerkannt in Brasilien lebte - setzten sich rechtzeitig ins Ausland ab. Andere erhielten milde Urteile. 1956 waren alle im Nürnberger Prozess verhängten Freiheitsstrafen wieder aufgehoben. Auch später kam es noch zu Verfahren gegen einzelne Ärzte wie Ullrich, Bumke, Endruweit und Borm, die nachweislich an Vergasungen von behinderten Menschen beteiligt waren. Prozesse in den 60er- und 70er-Jahren endeten mit Freisprüchen, weil es den Angeklagten an "Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ihrer Taten" gemangelt habe oder wegen "Verhandlungsunfähigkeit".

Viele dieser Ärzte führten ihre Praxen bis in die Neunzigerjahre weiter oder setzten ihre Karriere ungebrochen fort. So auch Mengeles Chef Othmar Freiherr von Verschuer, der seit 1942 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Menschliche Erblehre in Berlin leitete. Mengele hatte ihm regelmäßig Blutproben, Augenpaare und andere Körperteile von Häftlingen geschickt. 1951 wurde Verschuer Professor für Genetik in Münster, 1952 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, 1954 Dekan der Medizinischen Fakultät; im gleichen Jahr veröffentlichte er sein Werk "Genetik des Menschen", das Wissen enthält, für das Menschen sterben mussten. Auch viele Zeichnungen im berühmten Atlas "Topografische Anatomie des Menschen" des Wiener Anatomen Eduard Pernkopf entstanden anhand von Präparaten, die von Opfern des Nazi-Regimes stammten. Pernkopf wurde nach dem Krieg verhaftet, aber nie angeklagt; später durfte er an seinem Buch weiterarbeiten. Selbst in den Auflagen der Nachkriegszeit finden sich noch Hakenkreuze und SS-Runen in den Unterschriften der Zeichner.

Der Nürnberger Prozess hätte die Chance zu einer selbstkritischen Bestandsaufnahme in der deutschen Ärzteschaft eröffnen können. Diese Chance wurde in beiden deutschen Staaten verspielt. Als die Prozessbeobachter - der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich und der Medizinstudent Fred Mielke - 1947 ihre Dokumentation "Medizin ohne Menschlichkeit" herausbrachten, prallten sie bereits gegen eine Mauer des Schweigens. Eine selbstkritische Überprüfung der eigenen Vergangenheit wurde abgelehnt. Eine adäquate Aufarbeitung der medizinischen Verbrechen im Dritten Reich fand nicht statt. Die etablierte Ärzteschaft tat sich schwer mit einer offenen und ehrlichen Vergangenheitsbewältigung: Als der junge deutsche Arzt Hartmut Hanauske-Abel in der Fachzeitschrift ,The Lancet' 1986 Material über die Vergangenheit der deutschen Ärzte veröffentlichte, wurde er dafür vom höchsten deutschen Ärztefunktionär Karsten Vilmar persönlich angegriffen und verlor seine Arbeitsstelle. Drei Präsidenten der Bundesärztekammer nach 1945 waren Mitglieder in der SA oder SS gewesen. 1993 wollte sich einer von ihnen - Hans Joachim Sewering - zum Präsident des Weltärztebundes wählen lassen. Protest aus dem Ausland verhinderte jedoch seine Wahl, da er 1943 die Euthanasie-Ermordung eines 14-jährigen Mädchens mitverschuldet hatte.


Aktueller Bezug in der EthikdebatteNach oben hoch

Dieses Verdrängen hat auch dazu geführt, dass Medizinstudenten heute nichts dazu zwingt, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Das Fach "Geschichte der Medizin" schenken sich viele, denn im Staatsexamen werden nur vier Multiple-Choice-Fragen dazu gestellt. Ein Zustand, den der Heidelberger Medizinhistoriker Wolfgang Eckart gerne ändern würde: "Dass ein Medizinstudent im Zeitalter ständiger Ethikdebatten sein Studium absolvieren kann, ohne je mit den schlimmsten Auswüchsen medizinischer Forschung konfrontiert zu werden - das kann doch nicht sein!"

Auch der Göttinger Rechtsmediziner Klaus-Steffen Saternus sieht großen Diskussions- und Aufklärungsbedarf: "Mit der Verwertbarkeit von Menschen rechtfertigten viele die KZ-Experimente", sagt Saternus. "Studierende sollten daraus lernen und die Absichten heutiger Forschungsinteressen kritisch hinterfragen, etwa wenn es um experimentelle Therapien an ,austherapierten' Krebspatienten geht." Manche Daten - zum Beispiel die Hypoxiezeiten des menschlichen Gehirns - seien an Opfern der Nazi-Medizin gewonnen worden. Studenten sollten dies wissen und zum Beispiel in ihrer Doktorarbeit darauf hinweisen. Auch die ASAMANS-Projektgruppe wünscht sich Konsequenzen aus der Umfrage. In Berlin arbeitet nun die Ausbildungskommission daran, das Thema stärker in den Studentenunterricht zu integrieren. Im ,Deutschen Ärzteblatt' ist eine Zusammenfassung erschienen. Langkafel befürchtet jedoch, dass die ASAMANS-Ergebnisse wieder in der Schublade verschwinden. Er hätte sich auch mehr Interesse von anderen medizinischen Fakultäten gewünscht. Dort scheint jedoch niemand etwas an der derzeitigen Situation ändern zu wollen: Bisher hat sich keine offizielle Stelle bei ihm gemeldet - die einzige Anfrage kam von einer israelischen Universität.

Evelyn Hauenstein studiert in München Medizin und arbeitet als freie Medizinjournalistin für Via medici.


Artikel zum Thema Nationalsozialismus bei Via online und LinktippsNach oben hoch
LinkÄrzte-Verbrechen: Medizinstudenten wissen wenig darüber
LinkBegegnungen von Judentum und Medizin in der Zeit des Dritten Reiches

Linktipp

Im August 1943 wurden 86 jüdische Frauen und Männer aus 8 europäischen Ländern für eine Skelettsammlung ermordet - August Hirt, zuletzt Anatomieprofessor in Straßburg, war der Initiator der Ermordungen. Jahrzehntelang kannte niemand die Namen geschweige denn die Biografien der 86 Opfer. Der Journalist Hans-Joachim Lang hat nach langen und akribischen Recherchen alle Namen herausgefunden und darüber ein Buch veröffentlicht - über die Opfer, die Täter und das Geschehen damals. Viele Informationen lassen sich auch auf der zugehörigen Internetseite nachlesen:

   Externer Link Die Namen der Nummern

LinkDie Namen der Nummern - Interview mit Dr. Lang
 
Mein Studienort

Neues bei Via medici
 
Via Newsletter